Wie geht man mit einer Frau um, die vor knapp 80 Jahren an dem Schreibtisch saß, an dem in einem Konzentrationslager das Schicksal abertausender Menschen besiegelt wurde? Der Bundesgerichtshof bleibt seiner harten Linie in der Annahme von Beihilfe treu und erweitert sie sogar.
Beihilfe meint gem. § 27 I StGB, dass vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet wurde. Es bedarf also einer vorsätzlichen Tat, denn nur zu dieser kann Hilfe geleistet worden sein. Das Hilfe-Leisten als solches wird als jedes Ermöglichen, Erleichtern sowie Verstärken der Haupttat verstanden.
Grundsätzlich bedarf es aber zur Annahme von Beihilfe einer konkreten Haupttat und einer konkreten Beihilfehandlung. Von diesem Grundsatz hat die deutsche Rechtsprechung eine Ausnahme kreiert.
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Bereits 2011 wurde im sogenannten Fall Demjanjuk festgestellt, dass die Strafbarkeit eines Täters, der Teil der Mordmaschinerie gewesen war - etwa in Form eines Wachmannes - auch ohne Nachweis eines konkreten Tatbeitrages angenommen werden dürfe. Im Falle des Ukrainers Iwan Demjanjuk, der in der Zeit nach seiner Gefangennahme durch die Wehrmacht als Hilfswilliger in den Hilfstruppen der SS gedient hatte, konnte diese Rechtsprechung jedoch nicht rechtskräftig werden. Rechtskräftig ist ein Urteil erst dann, wenn alle Rechtsmittel erschöpft sind, also im Strafprozess - wenn eine Revision zugelassen ist - in höchster Instanz mit Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH). Im Fall Demjanjulk war der Angeklagte vor dem Revisionsurteil verstorben.
Erstmals rechtskräftig wurde diese Annahme mit dem Revisionsurteil im Fall Oskar Gröning vom 20. September 2016. Dieser erlangte als "Buchhalter von Auschwitz" traurige Bekanntheit und wurde wegen Beihilfe zum Mord gem. §§ 211, 212, 27 StGB in 300.000 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt.
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Im möglicherweise letzten Fall zur Aufarbeitung von Kriegsverbrechen der Nazionalsozialisten, der gegenüber einem lebendigen Täter oder Teilnehmer geführt werden kann, folgte der BGH dem Grundsatz, den er mit dem Urteil zu Oskar Gröning statuierte. (Urt. v. 20.08.2024, Az. 5 StR 326/23)
Angeklagte war eine nunmehr 99-jährige Frau, die von 1943 bis 1945 als Stenotypistin in der Kommandantur des Konzentrationslagers Stutthof gearbeitet hatte.
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Zwar war von der Verteidigung der Angeklagten vorgetragen worden, ihr könne kein Vorsatz nachgewiesen werden, da man nicht nachhalten könne, ob die Frau wirklich gewusst habe, was in dem Konzentrationslager passierte. Auch stellte die Verteidigung darauf ab, dass sich die Tätigkeit der Frau in dem KZ nicht wirklich von derjenigen unterschied, die sie zuvor in einer Bank hatte - sie habe "neutrale Handlungen" ausgeführt.
Das Urteil geht in eine andere Richtung. Durch die Schreibtischarbeit der Angeklagten habe diese im Sinne von § 27 I StGB Beihilfe geleistet. Als Stenotypistin habe sie im KZ Stutthof gesprochene Texte in Schriftsätze übertragen. Des Weiteren sei jedweder Schriftverkehr des Konzentrationslagers über ihren Schreibtisch gegangen. Demnach sei anzunehmen, dass die zu Beginn ihrer Tätigkeit in Stutthof 18-Jährige von der Bestellung des Blausäuregases Zyklon B wusste. Außerdem sah das Gericht auch eine Kenntnis der Angeklagten als gegeben, angesichts des stetigen und deutlichen Geruchs verbrannter Leichen.
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Erstmals wurde die Rechtsprechung, die mit der Verurteilung Oskar Grönings rechtskräftig wurde, damit auch auf "normale" Konzentrationslager erweitert. Vorher galt sie nur für reine Vernichtungslager wie Auschwitz, Sibibor oder Kulmhof. Stutthof hingegen fungierte auch als Arbeits- und Konzentrationslager. Auch hier jedoch sei die Offensichtlichkeit der Tötungsmaschinerie offenkundig gewesen. Nach Angaben des Dokumentationszentrums Arolsen Achives wurden auch in Stutthof zwischen 1939 und 1945 von 110.000 Inhaftierten 65.000 Menschen ermordet. Die 99-Jährige leistete nach dem Urteil in 10.505 Fällen Beihilfe zum Mord gem. §§ 212, 211 I, 27 I StGB.
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Auch die späte Aufarbeitung der Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen der Nationalsozialisten ist wichtig, wie sich an der Reaktion des Zentralrats der Juden in Deutschland zeigte. Der Präsident des Zentralrats, Josef Schuster sagte im Zuge des Urteils, dass "auch 80 Jahre nach der Schoa (...) kein Schlussstrich unter die NS-Verbrechen gezogen" werden dürfe.
"Mord verjährt nicht - weder juristisch noch moralisch"
Die Bestrafung der übriggebliebenen Täter aus der Zeit des "Dritten Reichs" ist vor allem aufgrund symbolischer Anteilnahme den Opfern gegenüber wichtig. Die Bestrafung erfolgt üblicherweise angesichts des Alters der heutzutage Angeklagten nicht aus der Sorge vor Wiederholungsgefahr.
Für die Angehörigen der Opfer oder für Überlebende selbst bedeuten die Urteile, auch wenn sie spät gefällt werden, ein sichtbar-Werden des Leides und des Schmerzes, den die NS-Gräueltaten bei ihnen hinterließen.
Viele der Prozesse wurden in den letzten Jahren wegen Verhandlungsunfähigkeit auf Grund des Alters der Angeklagten eingestellt. Umso größer ist die Bedeutung, derjenigen Fälle, die zu einem Urteil kommen.